"Optimale Ergebnisse erfordern fusionierte Daten"
Was versteht man unter einer digital aufgestellten Zahnarztpraxis? Vor ein paar Jahren war eine Praxis schon digital, wenn sie nicht mehr mit Karteikarten, sondern am Bildschirm arbeitete. Dr. Dr. Stephan Weihe ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Digitale Kompetenz in der Zahnmedizin an der Universität Witten/Herdecke sowie des ICRD (Institute for Consulting, Research and Development in Dentistry and Medicine) und Host auf der Digital Development Stage bei ALLES AUSSER ZÄHNE. Warum der demografische Wandel die Digitalisierung vorantreibt und gerade junge Leute häufig hinterherhinken, erzählt der Mülheimer im Interview.
Warum spielt die Digitalisierung in den kommenden Jahren eine große Rolle?
Sie ist wichtiger denn je, weil uns immer weniger Zahnärzte und Zahnärztinnen zur Verfügung stehen werden. Wir bilden zwar seit Jahren die gleiche Anzahl an Hochschulabsolventen in der Medizin und Zahnmedizin aus, aber ein Großteil wird nicht mehr Vollzeit oder in anderen Bereichen arbeiten. Arbeitszeit, die uns fehlt.
Dafür verantwortlich sind u.a. zwei Faktoren: Zwischen 70 und 80 Prozent der Absolventen sind weiblich. Sie erwarten – wie aber auch immer mehr ihrer männlichen Kollegen – Arbeitszeitmodelle, die es ermöglichen, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Das gleiche gilt im Übrigen für qualifiziertes Personal.
Zudem ist es für viele junge Zahnärztinnen und Zahnärzte eher unattraktiv geworden, eine Praxis zu übernehmen. Vor allem die steigenden Allgemeinkosten und der Fachkräftemangel machen die Einzelzahnarztpraxen nicht mehr zeitgemäß, was dazu führt, dass viele Absolventen lieber angestellt mit festen Zeiten ihren Beruf ausüben.
Die Arbeitszeit in der Praxis muss deshalb effektiver genutzt werden. Die Digitalisierung bietet diesbezüglich enorme Chancen, sowohl diagnostische und therapeutische Prozesse zu standardisieren und optimieren als auch die Ressource Arbeitszeit zu entlasten.
Welche Rolle kann Künstliche Intelligenz (KI) spielen?
Grundsätzlich sollte Medizin evidenzbasiert sein, also nicht nur auf persönlichen Ansichten und Erfahrungen beruhen, sondern sich auf wissenschaftliche Belege und Beweise stützen. Das muss auch die Basis jeder KI sein.
Dabei kann sich die KI aber auf eine extrem hohe Anzahl von Erfahrungswerten zahlreicher Studien und/oder einer Vielzahl erfahrener Behandler stützen, wozu ein einziges Individuum niemals in der Lage wäre. Gewissermaßen fußt die KI somit auf Gruppen- oder Schwarmintelligenz, also darauf, dass Gruppen von Individuen durch Zusammenarbeit intelligente Entscheidungen treffen können.
Bei der Entscheidung folgt die KI dann festgelegten bzw. programmierten Algorithmen und ist dabei lernfähig, aber nicht selbstlernend. Die KI schärft sich gewissermaßen durch Einordnung jedes neuen Falls nach.
Wir befassen uns seit Jahren mit digitalen Prozessen, aber auch mit der Fragestellung, inwieweit man zusätzlich KI einsetzen kann. Bisher ist es nur möglich, bestimmte diagnostische Prozesse teilweise mit KI zu automatisieren.
Ein Beispiel dafür ist Diagnocat, ein Cloud-basiertes Diagnosetool. Für z. B. hochgeladene 2D- oder 3D-Röntgenbilder wird innerhalb weniger Minuten von einer KI ein Befund erstellt. Der ist noch nicht immer perfekt, zeigt aber die Richtung, in die es gehen wird.
Wie gelangen digitale Prozesse in die Praxen?
Das ist gar nicht so einfach, weil es viele Anbieter gibt, deren unterschiedliche Hard- und Software oftmals nicht kompatibel mit anderen Systemen ist und über keine offenen Schnittstellen verfügt. Als ICRD beraten wir Praxen herstellerunabhängig auf ihrem Weg in die Digitalisierung, denn wer in die Digitalisierung einsteigen will, muss richtig durchstarten.
In vielen Praxen gibt es diesbezüglich Nachholbedarf: Zwischen 15 und 20 Prozent der niedergelassenen Ärzte benutzen einen Intraoralscanner, Tendenz steigend. Der Anteil der installierten DVT-Systeme liegt etwas höher, doch etliche der Geräte sind älter als zehn Jahre.
Die Anforderungen an DVT-Systeme haben sich jedoch mit der Zeit geändert. Während in den Anfangszeiten die Systeme standalone genutzt wurden, erfordern digitale Prozesse in der Zahnarztpraxis die Fusion der Röntgendaten mit anderen digitalen Daten, z. B. eines Intraoral- oder Facescanners. Dabei sind vor allem die geometrische Präzision und die Dichtekalibrierung von hoher Relevanz, während diese Parameter früher keine Rolle gespielt haben. Die Kombination verschiedener Datensätze und das Verschmelzen zu einem durchgängigen Prozess ist gleichermaßen eine große Herausforderung für die Entwickler digitaler Lösungen und deren Anwender.
Wird die Digitalisierung zur Generationenfrage?
An vielen Universitäten lernen die Studenten noch immer bevorzugt die konventionelle Abformung und klassisches zweidimensionales Röntgen statt des Umgangs mit dem Intraoralscanner und DVT. Die junge Generation möchte gemäß ihren sonstigen Gewohnheiten zwar alles digital gestalten, ist aber bezüglich der digitalen Prozesse in der Zahnheilkunde aufgrund der Ausbildung schlechter aufgestellt als ältere Praxisinhaber, die sich seit 20 Jahren mit der sich ständig weiterentwickelnden Digitalisierung beschäftigen. Somit besteht bei den jungen Kolleginnen und Kollegen großer Bedarf an diesbezüglichen Fortbildungsangeboten und die Digitalisierung in der Zahnheilkunde muss zwingend – so wie einige Universitäten es seit kurzem praktizieren – früher in den Fokus der studentischen Ausbildung rücken.
