„Es gibt keine unwichtigen Rollen“
Christian Gansch feiert in diesem Jahr sein Debüt bei ALLES AUSSER ZÄHNE (AAZ). Der gebürtige Österreicher war lange Zeit als Dirigent internationaler Orchester tätig.
Er dirigierte unter anderem das BBC-Orchester und fungierte als Führungskraft der Münchner Philharmoniker. In der Musikindustrie beschäftigte er sich vorwiegend mit der Produktion bekannter Künstler, darunter Claudio Abbado oder Anna Netrebko. Neben vielen internationalen Auszeichnungen gewann er auch drei Grammy Awards. Wie man aus vielen Individuen eine Einheit formt, wird sein Thema bei AAZ in München sein. Im Interview gewährt er Einblicke in seinen Vortrag.
Sie arbeiten in Ihren Vorträgen nicht mit PowerPoint-Präsentationen, sondern mit Musik und den dazu passenden Geschichten. Haben Sie ein Beispiel für uns?
Ich habe miterlebt, dass ein Dirigent von Weltklasse sich während einer Probe ausführlich der Kollegin an der Triangel gewidmet hat. Dieses Instrument verbindet man leider häufig abfällig mit der musikalischen Früherziehung oder unterstellt eine mangelnde musikalische Kompetenz der Musiker. Dem ist aber keinesfalls so. Der Dirigent sagte: „Das ganze Orchester spielt jetzt nur für Sie.“
Im Orchester gibt es große und kleine Rollen, aber keine unwichtigen. Wenn die kleinste Rolle nicht die entsprechende Wertschätzung erfährt, kann sie die Architektur des Orchesters zum Einsturz bringen. Ein Weltstar spricht mit der Triangel-Spielerin, um alle mitzunehmen. Das fand ich schön. Daraus habe ich gelernt und daraus können auch Führungskräfte aller Branchen lernen.
Welche Rolle in einem Orchester spielt der Dirigent? Ist er sozusagen der alleinige „Herrscher“?
Das optische Erscheinungsbild hat mit den inneren Strukturen nichts zu tun. Ein Dirigent hat auch nur zwei Hände – und die reichen nicht aus, um ein Profi-Orchester allein zu leiten. Ich bin umgeben von individuellen Spitzenkräften aus zig verschiedenen Ländern. Es agieren teilweise 25 Nationen in bis zu 15 Abteilungen. Deshalb hat jede Instrumentengruppe eigene Führungskräfte. Wenn ich mich den Blechbläsern widme, weil sie mich brauchen, müssen die Führungskräfte innerhalb der anderen Gruppen ihre Kollegen leiten. Ein Orchester ist ein sehr komplexes Gebilde. Ich muss permanent mit meinen Führungskräften interagieren. Wir halten Augenkontakt und dirigieren uns gegenseitig zu.
Was haben das Dirigieren eines Orchesters und das Führen eines Unternehmens gemeinsam?
Ein Orchester klingt, wie der Dirigent handelt. Er hat eine Vorbildfunktion. Ich habe dies neun Jahre lang täglich erlebt: Die Ausstrahlung einer Führungskraft bestimmt die Atmosphäre im Orchester, bzw. dem Unternehmen. ‚Der Ton macht die Musik‘ ist in unserem Fall nicht nur ein Sprichwort. Der Umgangston ist wichtig, damit eine positive Atmosphäre entsteht.
Wenn du der beste Verkäufer oder Arzt bist, heißt dies nicht, dass du automatisch auch eine geeignete Führungskraft bist. Für Führungskräfte ist nicht nur die Kraft ihrer Qualität entscheidend. Es reicht nicht aus, ein guter Geiger zu sein, ich muss mich auch um meine Leute kümmern.
Wie wichtig ist es, zuzuhören?
Ohne zuhören geht gar nichts. Das steht für mich an erster Stelle. Wenn ich als Geiger mit fünf anderen Gruppen agiere, kann ich nicht einfach mein Ding durchziehen. Ich muss sofort reagieren, wenn sich im Spiel der anderen etwas verändert. Wer ignorant ist, würde das Probejahr im Orchester nie überstehen.
Wie ist es möglich, aus vielen Einzelkämpfernaturen eine Harmonie zu schaffen?
Eines sollte klar sein: Wenn man ein Werk mit 80 Musikern dirigiert, alles Top-Leute, dann existieren 80 Visionen. Die Herausforderung für den Dirigenten ist, daraus eine Vision zu erarbeiten. Das ist wichtig, weil das Publikum nur dann auch mitgerissen wird.
Dem Publikum zuliebe muss man Lösungen finden. Es ist immer ein Wechselspiel der Kompetenzen, das nur funktioniert, wenn alle aufeinander eingehen. Kein Dirigent arbeitet gegen das Orchester. Es ist nie eine Einbahnstraße, erst recht kein patriarchalisches oder matriarchalisches System. Er oder Sie muss immer Überzeugungsarbeit leisten, um den gemeinsamen Weg zu finden. Identifizieren mit seinem Unternehmen kann man sich nur, wenn man das Gefühl hat, dass man wertgeschätzt wird.
